Die Europäische Union zwischen “Demokratiedefizit“ und Bundesstaatsverbot. Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
JOURNAL ARTICLE
Cite JOURNAL ARTICLE
Style
Format
Die Europäische Union zwischen “Demokratiedefizit“ und Bundesstaatsverbot. Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Der Staat, Vol. 48(2009), Iss. 4 : pp. 535–558 | First published online: October 03, 2017
18 Citations (CrossRef)
Additional Information
Article Details
Pricing
Author Details
1Prof. Dr. Christoph Schönberger, Universität Konstanz, Fachbereich Rechtswissenschaften, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht, Vergleichende Staatslehre und Verfassungsgeschichte, 78457 Konstanz.
Cited By
- 
                                                                            Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen SystemDie Staats- und Demokratietheorie des Bundesverfassungsgerichts und sein Unverständnis für die transnationale Europäische Unionvan Ooyen, Robert Chr. 2023 https://doi.org/10.1007/978-3-658-37532-4_65-1 [Citations: 0]
- 
                                                                            Treaty on the Functioning of the European Union – A CommentaryPreambleBlanke, Hermann-Josef 2021 https://doi.org/10.1007/978-3-030-43511-0_1 [Citations: 0]
- 
                                                                            Constitutional Identity and Ultra Vires Review in GermanySimon, Sven Central European Journal of Comparative Law, Vol. 2(2021), Iss. 1 P.185 https://doi.org/10.47078/2021.1.185-205 [Citations: 1]
- 
                                                                            Doubtful it Stood…: Competence and Power in European Monetary and Constitutional Law in the Aftermath of the CJEU's OMT JudgmentSauer, Heiko German Law Journal, Vol. 16(2015), Iss. 4 P.971 https://doi.org/10.1017/S2071832200019969 [Citations: 8]
- 
                                                                            The Treaty on European Union (TEU)Article 14 [The European Parliament]Blanke, Hermann-Josef | Mangiameli, Stelio2013 https://doi.org/10.1007/978-3-642-31706-4_15 [Citations: 0]
- 
                                                                            Das Lissabon-UrteilDie Demokratieverflechtungsfalle – Warum die EU nach dem Lissabon-Urteil demokratisch defizitär bleiben mussHöreth, Marcus 2013 https://doi.org/10.1007/978-3-531-94044-1_3 [Citations: 0]
- 
                                                                            Vom Nationalstaat zum Mitgliedstaat und wieder zurück?Franzius, Claudio Leviathan, Vol. 38(2010), Iss. 3 P.429 https://doi.org/10.1007/s11578-010-0096-4 [Citations: 3]
- 
                                                                            Französisches und Deutsches Verfassungsrecht§ 8 Verfassungsrecht – Völkerrecht – EuroparechtWendel, Mattias 2015 https://doi.org/10.1007/978-3-642-45053-2_8 [Citations: 0]
- 
                                                                            Supranationalität und DemokratieLegitimationsmodi eines Systems supranationaler Herrschaftsverflechtung: Das Beispiel der Europäischen UnionSchuppert, Gunnar Folke 2015 https://doi.org/10.1007/978-3-658-05335-2_3 [Citations: 0]
- 
                                                                            Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen SystemDie Staats- und Demokratietheorie des Bundesverfassungsgerichts und sein Unverständnis für die transnationale Europäische Unionvan Ooyen, Robert Chr. 2025 https://doi.org/10.1007/978-3-658-37528-7_65 [Citations: 0]
- 
                                                                            The Treaty on European Union (TEU)Article 2 [The Homogeneity Clause]Blanke, Hermann-Josef | Mangiameli, Stelio2013 https://doi.org/10.1007/978-3-642-31706-4_3 [Citations: 2]
- 
                                                                            The European Union after LisbonThe Institutional Design of the European Union After LisbonMangiameli, Stelio 2012 https://doi.org/10.1007/978-3-642-19507-5_5 [Citations: 7]
- 
                                                                            Europa-StudienDer lange Weg zur Europäischen UnionPechstein, Matthias | Kubicki, Philipp2013 https://doi.org/10.1007/978-3-531-19864-4_13 [Citations: 0]
- 
                                                                            Integration als Revolution: Souveränität und Legitimität der EU im Ausnahmezustand der EurokriseBarbato, Mariano Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Vol. 6(2013), Iss. 2 P.249 https://doi.org/10.1007/s12399-013-0318-3 [Citations: 1]
- 
                                                                            FEDERAL ALMAN ANAYASA MAHKEMESİ İÇTİHATLARI VE AB HUKUKUARSAVA, Ayşe Füsun Türkiye Adalet Akademisi Dergisi, Vol. 0(2022), Iss. 51 P.1 https://doi.org/10.54049/taad.1139315 [Citations: 0]
- 
                                                                            Das Lissabon-UrteilDas Bundesverfassungsgericht und die konstitutionelle Dimension der europäischen Integration*Ketelhut, Jörn 2013 https://doi.org/10.1007/978-3-531-94044-1_2 [Citations: 2]
- 
                                                                            Debating Legal Pluralism and Constitutionalism“Friendliness” Towards Others: How the German Constitution Deals with Legal PluralismViellechner, Lars 2020 https://doi.org/10.1007/978-3-030-34432-0_6 [Citations: 0]
- 
                                                                            Don't Act Beyond Your Powers: The Perils and Pitfalls of the German Constitutional Court'sUltra ViresReviewBast, Jürgen German Law Journal, Vol. 15(2014), Iss. 2 P.167 https://doi.org/10.1017/S2071832200002893 [Citations: 16]
Abstract
Der Beitrag kritisiert die staatstheoretischen und verfassungsrechtlichen Prämissen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon. Das Urteil macht das strukturelle Dilemma deutlich, in dem sich das Bundesverfassungsgericht im Umgang mit Revisionen der europäischen Verträge befindet. Faktisch kann das Gericht das Inkrafttreten eines neuen europäischen Vertragswerks nicht verhindern und rechtlich dessen Interpretation im Sinne seiner Rechtsprechung nicht erzwingen. Die staatstheoretischen Prämissen des Urteils sind vor allem deshalb problematisch, weil das Gericht einen einheitsstaatlichen Interpretationshorizont zugrunde legt, der allen Formen föderativer Staatenzusammenschlüsse unter Einschluss der Bundesstaaten nicht gerecht werden kann und damit erst recht die Europäische Union verfehlen muss. Dem entspricht auf der Ebene der Demokratietheorie, dass das Gericht die parlamentarische Mehrheitsdemokratie nach dem britischen Westminster-Modell zu einem universellen “staatlichen“ Standard stilisiert, den es dann nachdrücklich mit dem “nichtstaatlichen“ Institutionengefüge der Europäischen Union kontrastiert. Dieses Modell passt aber bereits etwa für die Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf Verhältniswahlrecht, Vielparteiensystem, Koalitionsregierungen und die hemmende Bedeutung des Bundesrates nicht. Ähnlich problematisch ist es, dass das Gericht einen angeblich universellen “staatlichen“ Standard der Wahlrechtsgleichheit behauptet, dem die nationale Kontingentierung der Sitze im Parlament der “nichtstaatlichen“ Europäischen Union nicht entspreche. Das Gericht übergeht dabei, dass dieser Standard in traditionellen Bundesstaaten wie den USA und der Schweiz bei der Staaten- wie auch der Bürgerkammer ebenfalls erhebliche föderative Modifikationen erfährt. Die Europäische Union gilt dem Gericht als “überföderalisiert“, ohne dass es irgendeinen Begriff von “Föderalisierung“ hätte. Seine Bundesstaatsblindheit krönt das Gericht mit der verfehlten Ableitung eines Verbots der zukünftigen Gründung eines europäischen Bundesstaates aus Art. 79 Abs. 3 GG. Da es die Vielfalt bundesstaatlicher Organisationsformen gar nicht erst in den Blick nimmt – “den Bundesstaat“ gibt es nicht – und ihm jegliche allgemeine Kategorien für die Strukturen föderativer Staatenzusammenschlüsse fehlen, besitzt diese Ableitung keine sachliche Überzeugungskraft. Sie ist Ausdruck des bedauerlichen Rückzugs des Gerichts in eine ängstliche Defensive, die auf eine selbstbewusste Mitgestaltung des europäischen Einigungsprozesses verzichtet.
